An das Ende der Welt...
Dank einiger Augenzeugenberichten und Online-Nachrichten bin ich gut darüber informiert, dass wohl auch in Deutschland und im nichtskandinavischen Europa der Winter Einzug gehalten hat, begleitet natürlich von den alljährlichen chaotischen Zuständen. Insofern wirken meine Berichte über den Winter hier in Schweden und speziell in Uppsala wohl nicht mehr allzu beeindruckend, obwohl es hier noch mal eine Note härter zugeht. Vor einigen Tagen, als mein Rad noch intakt war, bin ich bei -21°C zur Uni gefahren, bedeckt von unzähligen Schichten Kleidung und dennoch dem Schneegestöber beinahe ungeschützt ausgesetzt. In einer Nacht, als ich spät nach Hause ging und ganz Uppsala von einem dichten Nebel durchzogen war, ist derselbige an meiner Winterjacke festgefroren. Assoziationen mit Sibirien oder dem Südpol sind da durchaus angebracht. Das Bild unten zeigt keinen Pfad mitten im Wald, sondern meinen Weg zur Universität.
Ansonsten ist hier die Stimmung schon sehr auf Weihnachten gerichtet, Abschiedsstimmung macht sich bemerkbar, da einige Erasmusstudenten bereits vor Weihnachten in ihre Heimatländer zurückkehren und dann nicht mehr nach Uppsala zurückkehren. Kann ich nicht nachvollziehen, der ich mir geschworen habe, in diesem Zimmer so lange zu bleiben, bis ich aus Kantorsgatan hinausgeworfen werde. Die Nationen haben auch nur noch höchstens zwei Wochen geöffnet, Värmlands schließt nächstes Wochenende und wird auch nicht mehr öffnen, solange ich in Uppsala bin. Da heißt es also die verbliebene Zeit noch einmal intensiv nutzen und dieses unglaubliche und mit nichts zu vergleichende Studentenleben hier in Uppsala ein letztes Mal zu genießen.
Heute Abend ist zum Beispiel werde ich das "Julgasque" (Weihnachtsgasque) in der Värmlands Nation besuchen, dessen Afterparty bis vier Uhr geht, eine Uhrzeit zu der ich seit Monaten nicht mehr nach Hause gegangen bin. Ein bisschen Feiern habe ich mir wohl auch verdient, nachdem ich gestern eine Schwedisch-Prüfung hinter mich gebracht habe und mir über die ganze letzte Woche knapp 300 Vokabeln in die grauen Zellen gehämmert habe. Da kamen schon fast Erinnerungen an gruselige Lateinzeiten mit Cicero-Grundvokabular auf, nur dass Schwedisch alles andere als eine tote Sprache ist.
Würde jemand unter normalen Umständen auf die Idee kommen, an einem Mittwochmorgen in Hannover ein Auto zu mieten, nach Nürnberg zu fahren, ein Fußballspiel anzuschauen und nachts wieder zurückzufahren? Vermutlich nicht, da es einfach zu teuer, anstrengend, zeitraubend und letztendlich den Aufwand nicht wert wäre. Da ein Erasmussemester ja nun von normalen Umständen so weit entfernt ist wie der Geschmack deutschen Bieres von schwedischem, so scheinen derartige Argumente die wenigsten zu interessieren. Göteborg ist von Uppsala etwa so weit entfernt wie Hannover von Nürnberg. Die Strecke wirkt bei Schneetreiben und gefühlten drei Stunden Tageslicht nicht wirklich kürzer, aber dennoch: Die deutsche Nationalmannschaft spielt gegen die schwedische - da muss man doch hin! Wer das Spiel am letzten Mittwoch gesehen hat, mag dem im Nachhinnein nicht mehr unbedingt zustimmen und auch ich versuche krampfhaft das Positive daran zu sehen und nicht das grauenhafte Spiel oder die Tatsache, beim Zuschauen beinahe erfroren zu sein. Ach ja: An der oben beschriebenen Aktion war ich übrigens nicht beteiligt, ich bin nicht 5,5 Stunden in der Nacht zurückgefahren sondern habe mir am nächsten Tag mit ein paar anderen Leuten lieber noch die Stadt angeschaut. Nach Stockholm und vor Malmö und Uppsala die zweitgrößte Stadt Schwedens. Sicherlich sehenswert aber an Uppsala kommt sie natürlich nicht ran.
Wie schon im letzten Beitrag befürchtet, hat die Reise nach Norwegen hohe wenn nicht unüberwindbare Hürden für die kommenden Erlebnisse hier in Schweden gesetzt. Der Eindruck der Fjorde und schneebedeckten Berge verbunden mit den intensiven Wandererfahrungen bei Schnee und Eis waren einfach zu überwaltigend als dass so schnell etwas dies übersteigen könnte. Wenn man aber schon einmal für längere Zeit in Skandinavien ist, dann sollte man wohl auch so viel davon sehen und so viele Facetten davon entdecken wie nur irgend möglich. Auf meiner inneren Checkliste für Dinge, die ich noch tun möchte/muss bevor ich wieder nach Deutschland ziehe, stand bis gestern Finnland an oberster Stelle. Es gibt da die Möglichkeit, ähnlich wie die Fahrten nach Tallinn und Riga, eine Fährfahrt über Nacht zu unternehmen, acht Stunden in Helsinki zu verbringen und dann wieder über Nacht zurückzufahren. Man kann sich wohl in etwa denken, wie so etwas aussieht, wenn viele Austauschstudenten dort mitfahren, in welcher Weise das Duty-Free-Angebot genutzt wird und wie viel Energie dann letztendlich bleibt um die jeweilige Stadt zu erkunden. Daher haben wir uns entschieden, die Fahrt etwas auszudehnen und noch einen Tag in Finnland wandern zu gehen.
Wald und Seen...das sind die zentralen Begriffe, mit denen der Charakter Finnlands bereits zu 90% erfasst ist. Riesige Waldgebiete, die nur von einer unfassbaren Menge an Seen und vereinzelten Siedlungen durchbrochen werden. Bei nur 4,5 Mio. Einwohnern hält sich aber auch dies stark in Grenzen.
Erfahrungen machen bedeutet dann eben doch nicht nur, nach der Fahrt mit Hochglanzbildern zurückzukehren, die auf Facebook für Bewunderung und positive Kommentare sorgen. Erfahrungen machen bedeutet genauso, andere Seiten eines Landes zu erfahren und wenn es auch die Abgeschiedenheit der Finnischen Wälder ist, die Einsamkeit der Landschaft oder das Gefühl, nach einem langen und kalten Wandertag in die Sauna zu gehen um später in den kalten See nebenan zu springen. Letztendlich sind es auch solche Erlebnisse, die andauern und in Erinnerung bleiben. Jederzeit würde ich so etwas gegen einen Pauschal-Cluburlaub in irgendeinem namenlosen Touristenbunker in der Türkei eintauschen oder gegen Schlangestehen vor überteuerten Attraktionen, bei brütender Hitze und inmitten schlecht gekleideter Touristen. Dann doch lieber die Finnischen Wälder - bei aller Monotonie.
Draußen vor meinem Fenster ist ein starkes Schneegestöber schon den ganzen Tag dabei, Uppsala mit der ersten dauerhaften Schneeschicht zu bedecken und so bleibt mir, der ich heute glücklicherweise nicht in die Uni muss, genügend Zeit um die Erlebnisse des letzten Wochenendes hier niederzuschreiben. Viele andere Austauschstudenten drehen förmlich durch wegen des ersten Schnees und man könnte meinen, sie hätten so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen. Vor ein paar Tagen ging es mir zugegeben noch genauso, aber nach den Erlebnissen in Norwegen wirken diese wenigen Flocken doch nicht mehr allzu beeindrucken.
Am letzten Freitag machte ich mich also zusammen mit vier anderen Austauschstudenten - zwei Deutsche, ein Kanadier und ein Spanier - mit dem Flugzeug auf den Weg nach Bergen. Hinein in die regenreichste Region Europas mit mehr als 250 Tagen Regen im Jahr und dazu noch im November, der ja nicht gerade für seine vielen Sonnenstunden bekannt ist. Alle Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet und wir hatten an allen Tagen Sonnenschein oder zumindest klaren Himmel für ein paar Stunden - die Kälte war angesichts dessen auch nicht ganz so schlimm. Norwegen ist dank des Nordseeöls eines der reichsten Länder der Erde und hat daher ein Preisniveau, das die Schmerzgrenze weit überschreitet. Am ersten Abend in Bergen haben wir wegen der späten Stunde (das erste und einzige Mal) bei Burger King gegessen und für ein normales Menü knapp 12 Euro bezahlt. Für die restlichen Tage hatten wir glücklicherweise sämtliches Essen aus Schweden "importiert". Dies sollte aber auch die einzige Zeit bleiben, die wir wirklich in der Stadt verbracht haben, ansonsten stand eher die unglaubliche Landschaft Norwegens und mal wieder das Wandern im Mittelpunkt.
Tag zwei nutzten wir für eine ausgiebige Tour durch die Norwegischen Fjorde, eine Landschaft, die ich schon bei der Lapplandfahrt gesehen habe, die aber im Süden des Landes noch stärker ausgeprägt ist. Letztendlich waren es nur 240 km, die wir zurücklegten, dies allerdings in 5,5 Stunden Fahrtzeit. Drei Fährverbindungen und unzählige Tunnel lagen dazwischen - man könnte sagen, dies habe Zeit gefressen, letztendlich wurde dadurch jedoch die Fahrt entschleunigt und es war viel besser möglich, die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Verfolgt vom Gedanken an die früh einbrechende Dunkelheit sind wir gerade noch rechtzeitig am Anstieg zum Preikestolen, einer Klippe 600m über dem Lysefjord, angekommen, für den laut Reiseführer zwei Stunden benötigt werden. Der herannahende Winter hat diese Kalkulation jedoch zur bloßen Utopie gemacht; Wasser, Schlamm und in höheren Lagen Schnee und gefrorenes Wasser kombiniert mit Geröll und steilen Anstiegen machten den Aufstieg doch recht abenteuerlich.
Alle Mühen wurden aber mit einem Ausblick belohnt, der wirklich einmalig war und in seiner Wirkung leider mal wieder kaum in Bildern festzuhalten ist. Dank später Jahres- und Uhrzeit waren wir beinahe die einzigen Personen auf diesem Felsen und konnten den Ausblick unbeeindruckt von Touristenlärm genießen, der hier sonst im Sommer vorherrscht und die Stimmung dort oben entscheidend beeinträchtigt hätte.
War schon der Hinweg abenteuerlich, so war es der Rückweg umso mehr. Die Sonne, die den ganzen Tag kaum eine Dämmerungsposition verlassen hatte, verlor mehr und mehr in ihrem Kampf gegen die einbrechende Dunkelheit und die Nacht tauchte die Landschaft langsam in tiefes Schwarz. Davon war leider auch der schwierige Pfad zurück betroffen und nur dank GPS und Stirnlampen fanden wir sicher den Weg zurück zum Ausgangspunkt des Weges. Vielleicht kann man sich in etwa vorstellen, wie so etwas auf jemanden gewirkt hat, der wie ich erst vor ein paar Wochen in Lappland die ersten Wandererfahrungen gesammelt hat. Ein etwas seltsames Gefühlt blieb da nicht aus. Nach einer weiteren längeren Autofahrt kamen wir in der gemieteten Hütte in der Nähe eines Nationalparks an, gingen früh schlafen um am nächsten Tag zu einer noch intensiveren Tour in eine Gegend aufzubrechen, die stark an Mittelerde erinnert.
Das Wetter an diesem Sonntag war leider von Wolken und Nebel geprägt, welche die umliegenden Berge einhüllten und verschleierten. Wäre dies anders gewesen und hätten wir schon am Fuß des Berges gesehen, was uns erwarten würde, so hätten wir den Weg möglicherweise nicht eingeschlagen, der im Reiseführer als
expert ausgewiesen war.
So ging es also in den nächsten vier Stunden insgesamt 1.400m dauerhaft bergauf; über Schafsweiden, durch einen Tannenwald, über die Vegetationsgrenze hinaus und zuletzt nur noch durch Geröll und teilweise kniehohen Schnee. Ein ums andere Mal kam der Gedanke auf, umzukehren, da auch der Nebel immer dichter wurde und keinen Blick auf die Umgebung zuließ. Als dieser sich jedoch mit zunehmender Höhe aufzulösen begann, waren alle diese Gedanken schnell passé und die Aussicht auf einen unglaublichen Blick über die umliegende Landschaft und den riesigen Gletscher in naher Entfernung trieb die Gruppe durch das Schneefeld den Berg hinauf. Ganz erreichten wir den Gipfel nicht, weil der Anstieg einfach zu steil wurde, die Dunkelheit mal wieder den Rückweg zu verschleiern drohte und der Schneefall immer stärker wurde. Daher machten wir uns auf den Abstieg, der zwar schneller verlief als der Aufstieg, aufgrund des steilen Hanges, des rutschigen Untergrundes und der müden Beine jedoch wesentlich anstrengender war.
Ich muss mich stark zurückhalten, den Artikel hier nicht mit zu vielen Superlativen zu füllen, das Erlebte ließe dazu wirklich genügend Raum. Bisher habe ich so eine Erfahrung noch nie gemacht, war noch nie derartigen Natureinflüssen an so abgelegenen Orten ausgesetzt, die zugleich beeindrucken und einschüchtern.
Aber wie schon ein paar Mal bemerkt, ich habe den Eindruck, dass diese Zeit hier in Schweden so unglaublich viele Gelegenheiten bietet, den eigenen Schatten zu überspringen und Dinge zu erleben, die noch vor einiger Zeit vollkommen abwegig erschienen. Dass dies nicht nur mir so ging, sah man am letzten Wochenende. Die ganze Gruppe war sich einig im Enthusiasmus, so etwas zu erleben. Dadurch entstand eine Energie, die auch mal ungeübte Wanderer wie mich dazu bringt, einen 1.400m hohen Berg im Schnee zu besteigen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies nicht unser letzter Trip zusammen war und dass das Erlebte vielleicht auch über das Auslandssemester hinaus verbindend wirkt.
Mittlerweile hat sich das anfängliche Schneegestöber draußen in einen Schneesturm verwandelt und die ganze Stadt in eine Winterlandschaft verwandelt. Vor drei Tagen war ich da draußen und musste mit meinen müden Beinen kämpfen, jetzt sitze ich hier drinnen im warmen - letztendlich haben beide Situationen ihre Reize, auch die letztere, bald beginnt die Vorweihnachtszeit hier in Schweden, der
Luciadagen kündigt sich an und in den Supermärkten wird bereits
Julmust verkauft. Auch wenn dann die Reisen aus Sommer und Herbst der Vergangenheit angehören und sich das Leben wieder eher auf Uppsala konzentrieren wird, so bin ich mir doch sicher, dass auch diese Zeit noch einiges zu bieten haben wird, wovon ich hier im Blog berichten werde. Das letzte Wochenende aber wird für längere Zeit durch kaum etwas zu überbieten sein. Schweden ist wirklich schön, daran besteht kein Zweifel, aber Norwegen ist in seiner Landschaft aus Fjorden und Bergen einfach überwältigend.