Fast genau drei Monate bin ich nun in Schweden und es ist somit Zeit für einen kleinen Zwischenbericht. Hätte mich nicht eine Erkältung in den letzten Tagen dahingerafft, dann wäre der Bericht pünktlich erschienen, so sind es also schon mehr als drei Monate und das "Bergfest" liegt leider auch schon etwas zurück.
Drei Monate in denen ich niemanden gesiezt habe, nicht gesiezt worden bin und alle Professoren mit "Du" und Vornamen angeredet habe. Seltsame Erfahrung und im ersten Moment sehr gewöhnungsbedürftig - man fühlt sich ständig wie bei IKEA. Drei Monate ohne eine Sekunde Fernsehen (von Fußball im Pub abgesehen) und ohne nennenswerte Entzugserscheinungen. Drei Monate ohne vernünftiges Brot (Knäckebrot und Weißbrot mit der Konsistenz eines Schwammes sind auf Dauer nicht zufriedenstellend) und Bratwurst - hätte nicht gedacht, dass ich sowas vermissen würde, aber ich freue mich ungemein auf eine Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt.
Drei Monate in denen mir mehrfach gesagt wurde, sehr "deutsch" auszusehen und mich sehr "deutsch" zu verhalten, was im ersten Moment zugegeben immer ein gewisses Unbehagen ausgelöst hat. Von meiner schwedischen Mitbewohnerin wurde ich beispielsweise mehrfach ausgelacht, als ich das Knäckebrot, das hier in großen Scheiben zu kaufen ist, in gleichgroße Stücke geschnitten habe anstatt es einfach zu brechen. Auch als ich mich beim gemeinsamen Korridor-Essen genau an das Rezept hielt, war das Anlass, mich als typisch "deutsch" zu bezeichnen. Wenn das, zusammen mit Pünktlichkeit, Assoziationen für "typisch deutsch" sind - dann bitte. Ansonsten haben mich mein Aussehen und mein Vorname nur allzu oft davor bewahrt, sofort als Ausländer erkannt zu werden - nach dem Weg fragende Asiaten in der Fußgängerzone waren da keine Seltenheit.
Es sind drei Monate vergangen, in denen mehr passiert ist als ich es mir je hätte vorgestellt. Ich habe unglaublich viele Studenten aus unterschiedlichsten Ländern kennengelernt, was gar nicht so einfach ist, da die Mehrzahl der Austauschstudenten aus Deutschland kommt. Mein Englisch ist wesentlich besser als vor Abfahrt, Essays auf Englisch zu verfassen geht langsam auch ganz gut von der Hand. Wer weiß, wo sich das nochmal als nützlich erweisen wird. Ein paar holperige Sätze Schwedisch bekomme ich bereits auf die Reihe - der Sprachkurs war also nicht ganz vergebens. Ein paar grauenhaft holperige Sätze mit der schon erwähnten Mitbewohnerin endeten jedes Mal sehr peinlich als sie mir im perfekten Deutsch antwortete. Darüber hinaus habe ich - es klingt nach Erasmus-Werbebroschüre, ich weiß - meinen Horizont wesentlich erweitert. Wenn man an einem Ort aufwächst und dort länger lebt, dann ist das Verlangen, Neues zu entdecken häufig nicht mehr allzu groß, auch wenn dies in nächster Umgebung liegt. Beispiel: Kaum jemand, den ich kenne war schon einmal auf dem Münchener Oktoberfest - ich kenne mittlerweile mehr Kanadier und Amerikaner, die schon dort waren und nicht verstehen, warum die meisten Deutschen dort noch nicht waren. Auf der anderen Seite war keiner der Schweden, die ich hier kennengelernt habe, schon einmal in Lappland, was wiederum ich nicht verstehen kann (siehe Bilder von der Lappland-Wanderung). Insofern sollte man Acht geben, die Erlebnisse und Möglichkeiten, die auch die eigene Umgebung zu bieten hat, nicht aus den Augen zu verlieren. Ich hoffe diese Einstellung über den Aufenthalt in Schweden beibehalten zu können und endlich auch einmal in Deutschland mehr zu unternehmen - die Hannoveraner können sich schonmal auf einiges gefasst machen.
Oben zu sehen ist Daniel Craig bei Dreharbeiten zu "The Girl with the Dragon Tattoo" oder "Verblendung" oder "Män som hatar kvinnor" nach der Romanvorlage von Stieg Larsson. Der Film wird neu gedreht, unter anderem in Uppsala.
Drei Monate in einem Land, das Deutschland in vielem so ähnlich ist und doch sehr viele Eigenheiten zu bieten hat. Ein Land, das bis zum Zweiten Weltkrieg auf das engste mit Deutschland verbunden war - in Kultur, Wissenschaft und Mentalität. Selbst in Zeiten als Hitlers Armeen sich bereits daran gemacht hatten Europa mit Krieg zu überziehen fanden sich immer noch Personen, die an der generationenübergreifenden Solidarität mit Deutschland festhielten und noch die Ideale deutscher Sozialgesetzgebung und Wissenschaft beschworen.
Das ist heute lange her und kaum jemand der nicht historisch gebildet ist weiß noch, dass es die Hanse war die Schweden den wirtschaftlichen Aufschwung beschwerte, dass es deutsche Handwerker und Kaufleute waren die Stockholm erbauten und dass ein Großteil der schwedischen Sprache und Kultur auf deutsche Einflüsse zurückzuführen ist. Drei Monate in einem Land, das bei genauerem Hinsehen hin und wieder doch nicht so ideal und perfekt erscheint, wie es manchmal angenommen wird. 90 Jahre sozialdemokratische Regierung haben dem Land nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg beschert und das Land zeitweise zum wohlhabendsten der Welt gemacht. Sie haben auch zu Tendenzen geführt, die nicht wirklich demokratisch anmuten sondern dem Arsenal kommunistischer Despotien enstammen könnten. Das beginnt bei der gesetzlich verordneten Ersetzung der Höflichkeitsform in der Anrede durch das "Du" in Verbindung mit dem Vornamen und hört bei staatlich verordneten Zwangslohnangleichungen auf. Bestrebungen wie die letztere konnten zwar nicht durchgesetzt werden, geben aber ein gutes Bild von der langjährigen sozialdemokratischen Bestrebung, in Schweden ein einheitliches "Volksheim" zu schaffen und jegliche Klassenschranken einzureißen. Auch vor tiefsten Eingriffen in das Leben der Bürger und deren Selbstbestimmungsrechte schreckte man gerade in den 30er und dann in den 60er und 70er Jahren nicht zurück. Solche Dinge gehören ganz einfach auch zur Geschichte Schwedens; ebenso wie die Eugenik-Programme bis weit in die 1970er Jahre hinein und die moralisch durchaus fragwürdige Autonomie während des Zweiten Weltkrieges. Sie sollten keineswegs die Wertschätzung für das Land heute trüben, gehören aber ebenso zur schwedischen Identität, wie die Vorfälle des zwanzigsten Jahunderts zur deutschen.
Über drei Monate sind vergangen, nicht mehr ganz zwei folgen noch, bevor ich für Weihnachten zurückfliege um dann für ein sicherlich denkwürdiges Silvester wieder nach Stockholm zu fliegen. Genug Zeit also für ein paar letzte Ausflüge in diesem großartigen Land oder darüber hinaus. Einige Gasques werden noch folgen, die Vorweihnachtszeit mit dem
Luciadagen und vielleicht lässt sich ja auch irgendwann noch mal ein Elch blicken, man wird sehn...